Weibliche Führungskräfte in Krisenunternehmen
Der Organisationsforscher Prof. Dr. Florian Kunze vom Konstanzer Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ erforscht zusammen mit Dr. Max Reinwald und Dr. Johannes Zaia im „Journal of Management“, warum weibliche Führungskräfte in vielen Unternehmen erst in einer Krise eine Chance bekommen.
Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern auf dem Arbeitsmarkt hat das eingängige Bild von der „gläsernen Decke“ geprägt, durch die Frauen die höchsten Karrierestufen zwar sehen, aber nicht erreichen können. Damit verwandt ist die „gläserne Klippe“: Unternehmen in einer schweren Krise sind nach dieser Theorie eher geneigt, Frauen auf leitende Positionen zu berufen. Endlich oberhalb der „gläsernen Decke“ angekommen, sehen diese Frauen mit der Existenz der Firma aber auch ihre Karrieren bereits nah am Abgrund: Eine versteckte Form der Diskriminierung. Die Existenz des Phänomens war bisher sehr umstritten, nun liefern die Konstanzer Forscher stichhaltige Belege, dass es die „gläserne Klippe“ gibt, und wie sie zustandekommt.
Die „gläserne Klippe“
„Ein sehr eindrückliches Bild ist das“, findet Florian Kunze, der an der Universität Konstanz zur Rolle von Führungskräften in Organisationen forscht, „und natürlich gibt es einige prominente Beispiele, auch aus der Politik. Theresa May etwa, die direkt nach dem Brexit-Votum 2016 Premierministerin in Großbritannien wurde und an der schwierigen Aufgabe scheiterte, den Austritt aus der Europäischen Union zu verhandeln. Aber die meisten Beispiele für die ‚gläserne Klippe‘ bei der Beförderung von weiblichen Top-Führungskräften gibt es im Wirtschaftsbereich.“ Doch ob es sich dabei um Einzelbeispiele handelt oder die „gläserne Klippe“ ein allgemeines Phänomen ist, darüber herrscht in der Forschung noch große Uneinigkeit.
Kunze und seine Kollegen entwickelten daher auf der Grundlage sehr umfangreicher Daten aus der Praxis eine neue Studie: Sie berücksichtigten mehr als 26.000 Ernennungen auf Top-Führungspositionen im Vorstand in fast 4.000 US-amerikanischen Firmen und deckten dabei den Zeitraum zwischen 2000 und 2016 ab. Dr. Max Reinwald von der Ludwig-Maximilians-Universität München, der seit Jahren mit Kunze zusammenarbeitet, erklärt die Motivation: „Es geht um das tatsächliche Ausmaß der Diskriminierung weiblicher Führungskräfte: Bei einer Berufung auf eine ‚gläserne Klippe‘ führt der für Frauen ohnehin schwierige Weg an die Unternehmensspitze zwar vorerst zu einer Top-Position. Aber viele Frauen könnten sich dann dort nicht etablieren, da das Risiko zu scheitern in einer Unternehmenskrise natürlich um ein Vielfaches höher ist.“
Existiert die „gläserne Klippe“ wirklich?
Um das Ausmaß der Verbreitung von „gläsernen Klippen“ genau zu bestimmen, sahen die Forscher sich daher solche Firmen näher an, die noch knapp über oder schon knapp unter der Schwelle zur Krisenfirma waren. „Der Schwellenwert, ab dem einer Firma die Zahlungsunfähigkeit droht, ist eine leicht errechenbare Zahl, und die ist in Wirtschaftskreisen weit verbreitet. Andere Kennzahlen wie beispielweise Firmengröße sind davon unberührt“, erklärt Ko-Autor Dr. Johannes Zaia. „Dadurch können wir den Effekt einer Firmenkrise auf weibliche Berufungen isolieren. Und tatsächlich finden wir: Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau in eine Spitzenposition berufen wird, ist bei Krisenfirmen rund 50 Prozent höher.“ Auch wenn Männer nach wie vor die überwiegende Mehrzahl der Berufenen bilden, werden Frauen in Krisenunternehmen also viel eher für die Chefetage berücksichtigt. Der Befund bestätigt die Existenz der „gläsernen Klippe“ nachdrücklich.
Berufung von Frauen als Signal
Die Organisationsforscher nahmen an, dass Unternehmen in der Krise bei neuem Spitzenpersonal nicht nur nach bestimmten Führungsqualitäten suchen. Vor allem seien sie daran interessiert, ihren Investoren ein Signal zu senden: „Wenn eine Firma in finanziellen Schwierigkeiten plötzlich eine Frau auf einen Vorstandsposten beruft, dann kommuniziert sie dem Finanzmarkt: ‘Wir wissen, dass wir etwas tun müssen, und seht her, wir sind tatsächlich zu großen Veränderungen bereit.‘ Ein klares Zeichen für Aufbruch, Wandel, Lernfähigkeit!“, erklärt Johannes Zaia die Theorie.
Diesen Signalmechanismus bestätigen weitere Befunde. Die Forscher fanden „gläserne Klippen“ nur bei Krisenunternehmen, für die die Signalwirkung wichtig ist: Unternehmen, die im Fokus der Aufmerksamkeit von Investoren stehen, und solche, bei denen bisher keine Frauen im Vorstand waren. Die Autoren gehen aufgrund ihrer Daten davon aus, dass die Signalfunktion weiblicher Berufungen der Hauptgrund für die ‚gläserne Klippe‘ sei. Florian Kunze erklärt: „Für die Unternehmen halten als Signal nicht selten Berufungen von Frauen her, die bisher nicht in die Leitungsebene aufsteigen durften – sicher nicht der beste Mechanismus, um die ‘gläserne Decke‘ zu überwinden.“
Die Autoren empfehlen zur nachhaltigen Beseitigung der gläsernen Klippe ein gestärktes Bewusstsein für die Gründe, warum und unter welchen Umständen bestimmte Personalentscheidungen getroffen werden. Der Besetzung von Vorstandsposten sollte ein transparenter und offener Findungsprozess anstelle von Verhandlungen hinter verschlossenen Türen vorausgehen. Würden so erkennbar jeweils die am besten geeigneten Führungspersonen ausgewählt werden, hätte dies ebenfalls positive Signalwirkung – ohne Diskriminierung.
Faktenübersicht:
- Neue Publikation: Max Reinwald, Johannes Zaia, Florian Kunze (2022): Shine Bright Like a Diamond: When Signaling Creates Glass Cliffs for Female Executives. Journal of Management. Link: https://journals.sagepub.com/doi/full/10.1177/01492063211067518
- Datengrundlage: 26.156 Vorstandsernennungen in 3.883 US-amerikanischen Firmen zwischen 2000 und 2016. Informationen über Personalwechsel an der Spitze der Unternehmen stammen aus der Datenbank BoardEx; Informationen über die finanzielle Situation der Unternehmen stammt aus der Datenbank CompuStat North America.
- Prof. Dr. Florian Kunze ist Professor für Organisational Studies am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft sowie Principal Investigator am Exzellenzcluster „The Politics of Inequality“ der Universität Konstanz. Er forscht zu Digitalisierung und neuen Formen der Arbeit, Diversity und dem demographischen Wandel in öffentlichen und privaten Organisationen und effektivem Führungsverhalten.
- Dr. Max Reinwald ist Assistenzprofessor am Institute for Leadership and Organisation der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Führung, Diversity und Personalwesen.
- Johannes Zaia war bis 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der AG Corporate Finance und Doktorand an der Graduate School of Decision Sciences (GSDS), Universität Konstanz. Derzeit ist er als Risikomodellentwickler tätig. Er forscht im Bereich Corporate Governance, insbesondere zu Zusammensetzung und Entlohnung des Top-Managements und Aktionärsaktivismus.